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Umgang mit behinderten Menschen: Raúl Krauthausen mit seinen Thesen

Im Internet kursieren wichtige, witzige, leider oft auch völlig entbehrliche Dinge. Kürzlich haben wir in einem Blog einen Text gefunden, der uns wirklich angerührt hat. Weil er so offen war, so ehrlich und gleichzeitig kein einfaches Thema beschrieb. Wie können Eltern – wir ergänzen natürlich auch die Großeltern – ihren Kindern bzw. Enkeln begegnen, wenn diese behinderte Menschen sehen und Löcher in den Bauch fragen?

Antworten dazu gab es von Tiffiny Carlson. Sie formulierte “10 Things Every Parent Should Teach Their Kids About Disabilities“. Frei übersetzt von einem „fröhlichen und humorvollen Menschen aus Berlin“, so schreibt Raúl Krauthausen selbst in seiner Vita. In seinem Blog hatte er den Text frei übersetzt und etwas aus seiner Perspektive ergänzt. Für uns ein ganz besonderes Werk, das wir gern weiter veröffentlichen. Auf unsere Frage „Dürfen wir?“ bekamen wir sehr schnell seine Antwort: „Sehr gerne. Viel Erfolg beim Start… LG, Raul“. Wir sagen: Danke! Und sind gespannt, wie andere die folgenden Thesen sehen…

Raul im MC Drive

Kindermund tut Wahrheit kund

Wenn ich durch die Stadt fahre, falle ich auf. Natürlich. Ich bin klein, fahre einen elektrischen Rollstuhl, habe eine hohe Stimme und entspreche nicht dem “typischen” Menschen im Rollstuhl. Kinder, die mir mit ihren Eltern entgegenkommen gucken neugierig, schauen mich an, zeigen mit dem Finger auf mich und haben ganz offensichtlich viele Fragezeichen im Kopf:

Warum ist der so klein?
Warum kann das Baby reden?
Was ist das für ein Auto?…

Manchmal muss ich sehr schmunzeln, wenn sie ihre Entdeckung kommentieren. Meine Größe und die Tatsache, dass ich einen Bart trage scheinen die Kinder irgendwie zu kombinieren:

Guck mal Papa, ein Baby-Mann!
Das ist aber ein kleiner Opa.

Viel Interessanter aber sind die Reaktionen der Eltern. Diese sind sich nämlich häufig uneinig und unsicher, wenn es darum geht, ihren Kindern etwas über Behinderungen beibringen zu müssen. Vor allem auf offener Straße. Plötzlich, weil das Kind Antworten fordert. Einige Eltern schelten dann ihre Kinder, wenn sie fragen, was mit einem Menschen mit Behinderung nicht in Ordnung ist und zerren es weg:

Man zeigt nicht auf andere Menschen!
Da guckt man nicht hin!

Und das sind noch die harmlosen Sätze. Aber schon solche Aussagen brechen mir das Herz. Ich fühle mich mit dem Kind solidarisch, denn es hatte ja nur Fragen…

Andere Eltern hingegen nehmen es eher gelassen und erlauben den Kindern zu mir zu rennen und sich anzunähern. Sie versuchen zu erklären was los ist, wissen es aber oft selber nicht und wirken sehr unsicher. Daher hier nun eine kleine Liste mit Dingen, die Eltern ihren Kindern über Behinderungen beibringen können.

  1. Beantworte die Frage “Warum kann er nicht laufen?”

    Eine der häufigsten Fragen, die Kinder stellen, wenn sie jemanden im Rollstuhl sehen ist:

    Warum kann er nicht laufen?

    Kinder sind neugierig und wollen die Welt verstehen. Dies ist fraglos eine ihrer besten und gleichzeitig nervenaufreibendsten Eigenschaften. Wenn das Kind jünger ist, reicht es oft aus zu sagen:

    Er hat nur ein Aua.

    Wenn die Kinder älter sind, ist Ehrlichkeit am besten:

    Ich weiß es nicht, Liebling. Aber wenn du möchtest, können wir fragen.

    Mir ist natürlich klar, dass das Fragen dann große Überwindung kostet. Und oft nicht stattfindet. Aber es ist die Wahrheit. Wenn die Kinder oder Eltern sich trauen zu fragen, dann gebe ich ihnen eine auf meine Behinderung spezifische Antwort:

    Ich habe Glasknochen. Das bedeutet, dass meine Knochen schneller brechen. Wenn ich also stehen würde, könnte ich mir die Beine brechen. Deswegen sitze ich lieber.

    Kinder verstehen das sofort und interessieren sich dann schnell für meinen Rollstuhl.

  2. Werde nicht böse, wenn sie neugierig sind.

    Auch wenn es toll ist, dass so viele Eltern nicht möchten, dass ihre Kinder mich beleidigen, sollten sie nicht wütend auf ihre Kinder werden, wenn sie Fragen zu meiner Behinderung haben. Angst, Scham oder Verlegenheit ist nicht das, was Kinder im Zusammenhang mit Behinderungen empfinden sollten. Kinder fragen ihre Eltern oft nach mir. Das stört mich nicht.

  3. Anders sein ist nicht schlecht.

    Anstatt alles als traurige Geschichte darzustellen, sobald eine Nachfrage meiner Behinderung auftaucht, gefallen mir Sätze wie:

    Aber es ist so in Ordnung.
    Die Welt ist voller Menschen, die anders sind.

    Wir alle gehen unseren Weg auf andere Weise, wichtig ist nur, dass man ankommt.

  4. Frage immer, bevor du hilfst.

    Viele Eltern meinen es gut und bringen ihren Kindern bei, zu helfen wann immer es geht. Aber es ist genauso wichtig ihnen beizubringen nachzufragen, ob sie helfen sollen, bevor sie es tun. Nur so können sie anderer Leute Selbstständigkeit würdigen und mich als solchen respektieren.

    Einem Kind beizubringen automatisch mir zu Hilfe zu eilen, macht es ihnen schwer, mich als Person, abgesehen vom Rollstuhl, zu sehen. Sie wissen zu lassen, dass ich vieles allein kann ist eine wichtige Lektion für Kinder.

  5. Unsere Rollstühle sind keine übergroßen Kinderwagen.

    Einen Rollstuhl als meine “Beine” zu sehen, ist eine weitere wichtige Lektion. Kinder können mit vielen Wörtern einen Rollstuhl beschreiben – ein “Mini-Auto”, einen “Traktor”, ein “Was ist das?” – aber sie sollten nicht denken, mein Rollstuhl ist ein Kinderwagen. Es kann eine große Wirkung haben, wenn Kinder den Rollstuhl als ein stärkendes Objekt ansehen und nicht eines, das Hilflosigkeit symbolisiert.

  6. Pass auf, wie du selbst reagierst.

    Es ist kein Geheimnis, dass Kinder Schwämme sind, die die Gefühle von ihren Eltern sofort aufsaugen. Wenn Eltern sich nervös, ängstlich oder unangenehm in der Nähe von Menschen mit Behinderungen fühlen, dann werden sich ihre Kinder schnell genauso fühlen. Eltern sollten versuchen, diese Gefühle im Interesse ihrer Kinder beiseite zu schieben. Sie sollten freundlich und ruhig bleiben, wenn ihnen ein Mensch mit Behinderung begegnet. Dann werden ihre Kinder – hoffentlich auch noch wenn sie erwachsen sind – das Gleiche tun.

  7. 10 bis 60 Sekunden starren ist in Ordnung. Das verspreche ich!

    Wenn es ums Ansehen geht, haben Kinder bei mir einen Freifahrtsschein. Nur, wenn es ein zu langwieriges Anstarren wird, sollte man den Kindern sagen:

    Ansehen ist ok, aber nicht zu lange.

    Ich sage das, weil es mich immer sehr traurig macht, wenn ich einen Elternteil sehe, der seine Kinder dafür scheltet, einen Menschen mit Behinderung für einen kurzen Augenblick anzusehen. Kinder sind leuchtende neue Menschen, die die Welt entdecken. Ihre unschuldigen Blicke sind hundert Prozent in Ordnung.

Raul Krauthausen hat einiges zu erzählen

8. Ich habe keine Schmerzen.

Als ich befreundeten Kindern erklärte, dass ich Glasknochen habe, war ihre erste Reaktion: “Tut es weh?”

Kinder lernen den menschlichen Körper und die Doppelbedeutung von Wörtern gerade erst kennen. Wenn ich “Ich habe Glasknochen.” sage, dann hören sie “Glas” und “Knochen” und verbinden das schnell mit “Schmerz”. Auch wenn einige Menschen mit Behinderung schreckliche chronische Schmerzen haben, sollten Kinder wissen, dass eine Behinderung nicht immer einen physischen Schmerz mit sich bringt. Das kann eine riesige Last von ihren Schultern nehmen.

9. Wir können auch fantastisch sein

Wann immer es möglich ist, könnte man einem Kind einen Film, ein Buch oder ein Spiel mit einer positiven Darstellung von Behinderungen zeigen. Ein trauriger Film über Skifahrer, die sich ihre Genicke brechen, sich dann in einen Piloten verlieben, der später bei einem Flugzeugabsturz stirbt ist kein guter Film. Kinder sollten sehen, wie Menschen mit Behinderung beteiligt sind (Stichwort “Inklusion”), Spaß haben, und – ich wage es zu sagen – cool dargestellt werden.

Es kann schwierig sein ein Kinderbuch über Behinderungen mit positiver Darstellung zu finden, aber es gibt welche. Und einige gute Kinderfilme und Serien, die in dieselbe Richtung gehen, gibt es auch. Dazu gehört z.B. Wunder auf der Überholspur, einem Film über einen Jugendlichen im Rollstuhl, der davon träumt wie sein Bruder Pokale zu gewinnen.

10. Der Rollstuhl ist nicht an meinen Hintern geklebt

  1. Ich denke, jedes Kind sollte einmal einen Rollstuhlfahrer sehen, der aus seinem Rollstuhl herauskommt. Vielleicht auf ein Sofa oder besser noch, in einen Pool oder auf ein Motorrad. Wenn wir den Rollstuhl zurücklassen, können wir den Menschen zuerst sehen, den Rollstuhl-Benutzer erst danach.

    Auch habe ich gar kein Problem damit, wenn Kinder den Rollstuhl einmal selber fahren wollen. Ohne mich. Wenn dabei etwas kaputt geht, dann ist es meine Verantwortung. Ich habe ihn ja verliehen.

Ich weiß, alles was hier steht ist leichter gesagt, als getan. Ich habe keine eigenen Kinder. Ich erlebe sie aber regelmäßig in meinem Freundeskreis. Erziehung ist eine große Verantwortung. Das Ziel ist es, Kinder zu fantastischen Erwachsenen zu machen. Ich kenne viele Menschen, die mit Menschen mit Behinderung aufgewachsen sind und sie sind die unverkrampftesten Menschen, die ich je getroffen habe.

Natürlich wird nicht jeder Mensch mit Behinderung den obigen Empfehlungen zustimmen. Es ist, wie bei jedem Menschen ratsam, einfach nach dem gewünschten Umgang zu fragen. Man kann Wissen von allen lernen.

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